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Es braucht intelligente Ideen, wie man Freiwilligenarbeit fördern kann
Gastkommentar von Matthias Michel in der NZZ am Sonntag (08.09.2024)

Dem Fachkräftemangel und der Alterung lässt sich nicht allein staatlich oder privat begegnen. Es braucht auch «caring communities» als dritte Kraft – und den Staat, der die Organisation dieser Freiwilligenarbeit fördert, findet Matthias Michel

Die Schweiz ist bekannt dafür, dass die Menschen nicht nur beruflich produktiv sind, sondern auch in ihrer Freizeit anpacken. Jahrelang lag die Beteiligung der Bevölkerung an formeller Freiwilligenarbeit, die im Rahmen von Institutionen und Organisationen geleistet wird, bei rund 20 Prozent. Vor drei Jahren fiel sie aber auf 16 Prozent. Ob sich dieser Trend verfestigt, ist offen. Bekannt ist, dass sicher mehr als diese 16 Prozent der Schweizer Bevölkerung grundsätzlich bereit wären, Freiwilligenarbeit zu leisten. Selbst im Konjunktiv ist das eine gute Nachricht – und auch dringend nötig. Denn unsere Bevölkerung wächst und wird immer älter. Was das fürs Sozial- und Gesundheitssystem bedeutet, liegt auf der Hand. Die Frage ist, wie wir das mit Blick auf den Fachkräftemangel und steigende Ausgaben für die Gesundheit bewältigen.

Die Ausbildungsoffensive im Pflegebereich ist ein Schritt in die richtige Richtung. Allein, es wird Jahre dauern, bis diese Offensive nachhaltig wirkt. Offen ist zudem, ob wir damit die Defizite tatsächlich zu überwinden vermögen. Bevölkerungswachstum und demografische Entwicklung schreiten ja voran. Und ob neuartige Angebote wie die bezahlte Angehörigenpflege durch Familienmitglieder, die sich dafür in Teilzeit von einer Spitex-Organisation anstellen lassen, die Probleme nachhaltig lösen, ist fraglich. Man mag auf diese Weise teure stationäre Leistungen vermeiden. Aber letztlich geht auch diese Versorgung ins Geld.

Was immer wir tun: Fachkräftemangel und Alterung lassen sich nicht allein mit staatlichen Mitteln und privatem Unternehmertum lösen. Es braucht vermehrt «caring communities» als dritte Kraft. Dazu müssen wir den Rückgang der Freiwilligenarbeit stoppen und parallel dazu das ungenutzte Potenzial für Freiwilligenarbeit durch kluge Rahmenbedingungen heben.

Dass der Staat hier eine Rolle haben soll, ist gewöhnungsbedürftig, zumal aus einer liberalen Optik. Es reicht nicht, dass sich Behördenmitglieder auf freundliche verbale Anerkennung beschränken. Es braucht mehr Taten statt Worte. Denn traditionelle familiäre Strukturen verändern sich. Alte Lebensentwürfe und Rollenmuster haben sich längst aufgeweicht. Und die zunehmende Urbanisierung, veränderte Werte und virtuelle Welten tragen ebenfalls dazu bei, dass ein von unzähligen Vereinen ermöglichter sozialer Zusammenhalt mehr und mehr erodiert. Die Anonymisierung in der Gesellschaft nimmt zu.

Das erschwert es selbst in einer Nachbarschaft, den Bedarf nach Hilfe überhaupt zu erkennen, geschweige denn Freiwilligenhilfe zu organisieren. Hilfe, von welcher der Staat profitiert, ohne dass er sie veranlassen und steuern muss. Allein aus diesem Grund ist es angebracht, wenn Bund, Kantone sowie Städte und Gemeinden im Gegenzug etwas für diejenigen tun, die Freiwilligenarbeit initialisieren und organisieren. Konkret: dass die öffentliche Hand in die Organisation dieser Freiwilligenarbeit investiert.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es geht hier nicht darum, dass der Staat die Arbeit der Freiwilligen entgilt. Es geht darum, dass er einen institutionellen Rahmen und Unterstützung schafft für Organisationen, die Zeit und Know-how in den Aufbau und Betrieb dieser Arbeit investieren. Von einem solchen Bürgerdienst profitieren alle: der Staat, die Wirtschaft und die Gesellschaft als Ganzes.

Institutionelle Unterstützung durch den Staat wäre in jedem Fall sinnvoller, als wenn der Staat anfängt, die Arbeit der Freiwilligen zu entgelten oder mit Steuerabzügen zu belohnen. Dies würde Sinn und Wesen von freiwilliger Arbeit untergraben. Der Verzicht auf eine geldwerte Gegenleistung für freiwillig erbrachte Leistung bedeutet aber nicht, deren Organisation nicht zu unterstützen: Der Aufbau und der professionelle Betrieb von entsprechenden Organisationen (zum Beispiel Beratung, Geschäftsführung), deren Infrastrukturen (zum Beispiel Informatiksysteme) und Qualitätssicherung (zum Beispiel Weiterbildung der Freiwilligen) benötigen finanzielle Mittel.

Im Gegenzug können diese Organisationen die von ihren Freiwilligen geleistete Arbeit detailliert ausweisen, zum Beispiel durch Zeiterfassung. Diese dokumentiert gegenüber der öffentlichen Hand den grossen Wert für die Gesellschaft. Und die professionelle Organisation und Unterstützung der Arbeit der Freiwilligen würde helfen, dieses Engagement attraktiv zu machen nach dem Motto: Als Freiwillige arbeiten wir in einer Profiorganisation. Das würde dazu beitragen, die Quote der Freiwilligenarbeit wieder zu erhöhen.

Matthias Michel, 61, engagiert sich als Stiftungsrat der Fondation Kiss für die Förderung von Freiwilligenarbeit und Nachbarschaftshilfe. Die Stiftung unterhält 18 Genossenschaften, deren 5500 Mitglieder im vergangenen Jahr 65 000 Stunden Freiwil­ligenarbeit leisteten. Michel ist Rechtsanwalt und seit 2019 freisinniger Ständerat des Kantons Zug.

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