Medien

Mehr Freiwilligenarbeit – eine Notwendigkeit angesichts der Herausforderungen unseres Sozialstaates
Urbanisierung, veränderte Werte und virtuelle Welten tragen dazu bei, dass ein von unzähligen Vereinen ermöglichter sozialer Zusammenhalt erodiert.

Gastkommentar in der NZZ von Matthias Michel und Renate Amstutz (25. Januar 2023)

«Der jetzige Pflegenotstand ist erst ein Vorgeschmack.» Der Kommentar von Simon Hehli über den «Personalmangel im Gesundheitswesen» (NZZ 29. 12. 22) bringt es auf den Punkt. Der steigende Stress in unserem Gesundheitswesen, der seit Jahren für Schlagzeilen sorgt und nicht abnehmen wird, vermittelt uns einen Eindruck von dem, was uns in der Gesundheitsversorgung und der Altersbetreuung bevorsteht.

Wenn alle Babyboomer in der Schweiz (Jahrgänge bis 1970) künftig den Versorgungs- und Betreuungsstandard in Anspruch nehmen, den sich unsere Gesellschaft heute dank dem in den letzten Jahrzehnten erarbeiteten Wohlstand gewohnt ist, müssen wir umgehend handeln. Es gilt die vorhandenen personellen und finanziellen Mittel umsichtig zu nutzen. Die Digitalisierung – sofern wir diese in unserem Gesundheits- und Sozialsystem endlich in die Gänge bringen – wird uns dabei unterstützen. Sie allein wird es jedoch nicht richten.

Milizarbeit ist tief verankert

Weil ein Grossteil älterer Menschen so lange wie möglich in der gewohnten Umgebung bleiben will, braucht es neben einer zeitgemässen ambulanten Gesundheitsversorgung auch soziale Angebote und Strukturen, die ein möglichst langes Leben in den eigenen Wänden erlauben.

Die Frage ist, wie wir dies angesichts der wachsenden Zahl von Rentnerinnen und Rentnern sicherstellen. Der Markt wird dazu sicher einen Beitrag leisten können. Aufgrund der zunehmenden Alterung unserer Gesellschaft wächst die Zahl privater «Care at Home»-Anbieter, die gegen Bezahlung bei der Bewältigung von Alltagsaufgaben helfen.

Wer sich das aber nicht leisten kann oder will, ist auf die Hilfe von Angehörigen, Freunden und Nachbarn angewiesen. Das hat in der Schweiz lange gut funktioniert. Freiwilligen- und Milizarbeit ist in unserer Kultur fest verankert. Jahrelang lag die Beteiligung unserer Bevölkerung an formeller Freiwilligenarbeit, die im Rahmen von Institutionen und Organisationen geleistet wird, bei rund 20 Prozent.

Vor zwei Jahren fiel sie gemäss Bundesamt für Statistik aber auf 16 Prozent – ein besorgniserregender Rückgang. Ob es sich dabei um einen pandemiebedingten Ausreisser handelt, wird sich weisen. Was wir sicher wissen: Grundsätzlich kann sich weit mehr als «nur» ein Sechstel der Bevölkerung Freiwilligenarbeit vorstellen.

Der Wille ist da. Angesichts der sich abzeichnenden Grenzen von staatlicher Aufgabenerfüllung und -finanzierung stimmt das optimistisch. Positiv ist zudem, dass grosse Firmen ihren Mitarbeitenden Möglichkeiten bieten, während der Arbeitszeit soziale Arbeit zu leisten. Bund, Kantone, Städte und Gemeinden haben aber ebenfalls ein Interesse, dass ausserstaatliches freiwilliges Engagement wieder an Bedeutung gewinnt.

Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um formelle oder informelle Freiwilligenarbeit handelt. Freiwilligenarbeit – und dazu gehört auch Nachbarschaftshilfe – ist ein Gebot der Stunde und verdient es, gefördert zu werden. Zumal sich traditionelle familiäre Strukturen, Lebensentwürfe und Rollenmuster längst aufgeweicht haben.

Urbanisierung, veränderte Werte und virtuelle Welten tragen dazu bei, dass ein von unzähligen Vereinen ermöglichter sozialer Zusammenhalt erodiert. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Anonymisierung in unserer Gesellschaft weiter zunimmt. Das erschwert es, Nachfrage und Bedarf im freiwilligen Geben und Nehmen in der Nachbarschaft überhaupt zu erkennen, geschweige denn Geben und Nehmen aufeinander abzustimmen.

Ein institutioneller Rahmen ist wichtig

Was ist also zu tun? Freiwilligenarbeit tut man aus eigenem Antrieb, sie ist in ihrem Kern intrinsisch motivierter Dienst für die Gemeinschaft, in der man lebt. Eine Art Bürgerdienst oder «service citoyen», der auf eigenverantwortlichem und sinnstiftendem Handeln basiert. Obwohl der Staat von solchen freiwillig erbrachten Leistungen profitiert, braucht er die Eigenverantwortung weder zu veranlassen noch zu steuern. Sinnvoll wäre aber, wenn er Hand böte, um einen Rahmen für Freiwilligenorganisationen zu schaffen und die organisatorischen Rahmenbedingungen zu unterstützen.

Ein institutioneller Rahmen ist wichtiger und nachhaltiger, als Freiwilligenarbeit angemessen zu entschädigen oder mit Steuerabzügen belohnen zu wollen. Eine Forderung, die in jüngster Zeit immer mehr Auftrieb erhält, den Sinn und das Wesen von freiwilliger Arbeit aber untergräbt und deshalb nicht Schule machen darf.

Ein Verzicht auf geldwerte Gegenleistung bedeutet keineswegs, Freiwilligenarbeit nicht gebührend anzuerkennen oder wertzuschätzen. Indem die unter unserem Stiftungsdach (Fondation Kiss) eigenständig tätigen Genossenschaften die Arbeitszeit ihrer Mitglieder konsequent dokumentieren, erhält deren Arbeit einen erkennbaren Wert für alle. Diese Form der Wertschätzung ist auch im Sinne der Leistungsempfängerinnen und -empfänger. Weil keine Schuld entsteht, gibt es auch keinen Schuldner, dessen Rechnung zu begleichen wäre – auch nicht vom Staat.

Der Zuger Ständerat Matthias Michel (FDP) und Renate Amstutz, ehemalige Direktorin des Schweizerischen Städteverbandes aus Bern, sind ehrenamtlich im Stiftungsrat der in Zug gegründeten und domizilierten Fondation Kiss tätig.
Mitgliedschaften und Partner
Mitglied von:

Unterstützt von:

BILD Logo_SPITEX_Schweiz_RGB300dpi RZ_AKS_Logo_RGB__office_Originalgrösse